
27 Welten
1: Erde
Nach zwölf Jahren Arbeit im Finanzamt ist Bice so gut darin sich vorzustellen, sie sei irgendwo anders, dass ihr Brieföffner über den Umschlag hinausratscht, die Ü-Ei-Figürchen auf ihrem Schreibtisch umwirft und die Realität zerschneidet.
2: Provinzkaff-Stinkesumpf
Bice ist Postbotin. Erkennt man sofort an ihren Stahlkappenstiefeln, der Schutzbrille und der Gasmaske. Sie marschiert auf das Postamt zu. Löcher öffnen sich neben ihr im Schlamm. Gelegentlich saugt eins mit einem schmatzenden Geräusch ein unachtsames Exemplar der kleinen violetten Wasservögel ein, bevor der sich herabwälzende Schlamm es wieder füllt. Alles ein wenig verschlafen hier, selbst die Evolution. Die Löcher vermeiden sorgfältig Bices Weg. Das ätzende Faulgas, das der Sumpf fortwährend ausrülpst, wabert schwefelgelb durch die Schilfhalme, doch um Bice herum teilen sich durch eine sonderbare Laune der Luftströme die Schwaden. Ein stachelbewehrter Raubfisch bricht aus dem Morast hervor, erhebt sich meterhoch über sie – kein Grund zur Sorge, das Multiversum braucht sie noch – erstickt an einer Gräte und sinkt heftig klatschend zurück. Der Schatten des Schweberochens, der über den Atemschlauch geleint Fotosynthese für sie betreibt, fällt auf das Ziel ihrer Route: eine windschiefe Hütte, halb versunken in meterhohem Unkraut. Das Postamt dieser Provinzkaffwelt sieht aus, als sei es bereits eingestürzt und man habe sich lediglich entschieden, den zufällig entstandenen Hohlraum unter den Trümmern weiter zu nutzen. Sie bückt sich unter dem schräg hängenden Türbalken hindurch. Das Licht des Sumpfes projiziert durch die schiefen Bretter leuchtende Muster auf alle Oberflächen – auf ihrem reflektierenden Overall strahlt es so hell, dass es blendet. Ihre Augen protestieren. Zwischen deckenhohen, krummen Kartontürmen steht eine Gestalt in einem unförmigen Sackkleid und pafft eine bodenlange Pfeife. Ihre Haut ist dunkel, auf ihrem Kopf sprießt anstelle von Haar eine Wiese aus langen Halmen und vereinzelten Wildblumen. Bice richtet die Augen wieder auf den Raum. Wie dieser Ort wohl riecht? Das warme Gummi ihrer Maske riegelt ihren Geruchsinn hermetisch von der Außenwelt ab. Ein Rumsen hinter ihr, als der Rochen mit seinem eigenen Auftrieb kämpft, bis er im zweiten Versuch schließlich unter dem Türbalken hindurchtaucht und wieder seinen angestammten Platz über ihrem Kopf einnimmt. Das Manöver war nicht gerade leise, die Pfeifen-Person starrt sie an. Bice tastet an ihrem Hinterkopf nach der Tzethu-Lizenz, die sie für den Ausflug in diese Welt gemietet hat. Drückt den kleinen Chip im Slot im breiten Kopfband ihrer Fliegerbrille hoch. Mit einem leisen Klicken hebt sich die B57-Lizenz aus ihrem Slot wie ein fertiges Toastbrot. Nicht glauben. Nicht assoziieren. Okay, los geht´s.
„Glück auf“. Seltsames Gefühl in ihrem Mund, als der neue Chip ihr Gehirn veranlasst, den gewohnten Gedanken in eine ungewohnte Bewegung zu übersetzen. „Haben Sie Post für mich?“ Ihre Stimme klingt durch die Maske dumpf. Sie zieht ihr Pass-Log aus der Brusttasche ihres Overalls.
„Darf ich sehen?“, fragt die Pfeifen-Person. Ist jedes Mal aufs Neue ein Erlebnis, plötzlich Sprachen zu verstehen, die man nie gelernt hat. Bice zeigt ihr das Pass-Log, ohne es loszulassen.
„Wow!“, ertönt die Stimme aus einer unerwarteten Richtung neben ihr. Woher…? Ihre Blicke bleiben an der knorrigen Topfpflanze auf dem Karton neben ihr hängen, die scheinbar über ihre Schulter hinweg in den Pass gespäht hat.
„Hallo“, sagt Bice.
„Heftige Lieferhistorie“, sagt die Pflanze.
„Wir haben leider nur vier“, sagt die Pfeifen-Person und wühlt in einem der Kartonstapel.
„Macht nichts.“ Weniger als fünf ist ineffiziente Scheiße, aber was soll man machen. Bice wendet sich wieder an die Topfpflanze.
„Auch Postbote? Welcher Bereich?“
„Nein, nein. Nur auf Durchreise“, sagt die Pflanze. Sie sieht faszinierend aus. Bewegt sie sich, durch die milchige Haut ist das Relief einer verzweigten Struktur zu erahnen, ein hydraulischer Bewegungsapparat? Von jedem ihrer Blätter blinzelt ein Auge.
„Will sich selbst als Sendung aufgeben“, kommt die Stimme des Pfeifenwesens gedämpft zwischen den Kartons hervor. „Steht aber schon ewig hier herum. Gut, Sie sind der erste Bote, der diese Woche hier durchkommt.“ Ein Infrastrukturproblem? Hier? In diesem Nabel der Welten? Bice zwingt ihre Wangenmuskeln in eine neutrale Position. Sie tritt an den Kartonstapel heran und nimmt an, was ihr von der auffordernd entgegengestreckten Hand angereicht wird. Die erste Sendung – ein Stapel Dokumente? – ist in gelbes, aggressiv zugetackertes Papier eingeschlagen. Das zweite ist ein weißer Karton mit Goldprägung.
„Wo müssen Sie hin?“, fragt sie die Pflanze und betrachtet die Adresse ihrer beiden Sendungen. Zweimal Aerocity. Herrlich, Effizienz.
„XXX.“
„Nicht meine Richtung, aber ich kann Sie bis zum nächsten Weltenreisebüro mitnehmen. Dort finden Sie bestimmt jemanden, der nach XXX unterwegs ist.“
„Oh, bitte! Wer weiß, wann sich der nächste Bote hierher verirrt…“
„Hier, das noch“, tönt es dumpf aus dem Kartonstapel. Die Hand reicht Bice einen Klumpen – ist der mit Fischhaut umwickelt? Ihr Blick bleibt an einer Adresszeile hängen. Na super…
„Das mach ich nicht. Das ist ne Welt ohne Atmosphäre. Brauch ich Spezialausrüstung für, da würde das Honorar ner kompletten Route für draufgehen, rechnet sich nicht.“ Hoffentlich, hoffentlich reicht das Honorar für zwei Sendungen, um hier wieder weg zu kommen. Lichtstreifen flackern über die Kartons. „Die anderen zwei nehme ich mit.“
„Sie sind wohl nicht aus der Gegend?“, fragt das Pfeifen-Wesen. Es steigt zwischen den Paketen hervor, Staub von seinem stylischen Kartoffelsack klopfend.
„Wieso?“
„Ihre Risikoanalyse. Diese Sendungen hätten eine höhere Wahrscheinlichkeit anzukommen, wenn ich sie in Brand setzen würde.“
Bice hebt die Augenbrauen, bis sie an die Unterseite ihrer Fliegerbrille stoßen. „Ich habe länger keine Zeitung mehr bekommen…“
„Aerocity liegt mitten im Krisengebiet. Politische Spannungen, so dick, dass man kaum atmen kann. Brüchige Waffenruhe.“ Ah, ungünstig. Krieg bedeutet Armut, Armut bedeutet schlechte Auftragslage, gerade in einer teuren Branche wie ihrer. Sie betrachtet nachdenklich den gelben Umschlag. Scheint lange hier gelegen zu haben, denn das Honorar ist unverschämt niedrig, dafür ist als Liefertermin bloß „Viel Glück“ auf die Verpackung gekritzelt. Irritierend. Aber Sie braucht das Honorar wirklich, sonst muss sie ihren Lebensstandard hinunterschrauben. Nicht mehr essen oder so.
„Sie überschätzen diese Krise, wenn Sie glauben, dass sie mich daran hindern könnte, eine Sendung zuzustellen.“ Wow, klingt sie überzeugend. Sie hebt den Topf hoch. Die Pfeifen-Person schüttelt bei Bices Worten den Kopf so heftig, dass ihre Halme wippen. Sie nimmt einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife. Rauchschwaden steigen auf.
„Das hoffe ich. Ich habe hier so wenig Kundschaft, ich kann den Laden dichtmachen, wenn interkosmische Sendungen unter meiner Zuständigkeit verloren gehen.“ Bice wartet auf die Unterschrift und steckt ihr Pass-Log sorgfältig in die Brusttasche zurück.
„Ich verlier keine Sendungen. Helfen Sie mir und packen das Päckchen in meinen Rucksack? Würde ich ungern absetzen, hängt mein Lebenserhaltungssystem dran.“ Sie tippt hinter ihrem Rücken auf die Schlaufe, durch die der Atemschlauch des Schweberochens läuft. „Unteres Fach.“ Es wird an ihrem Rucksack gezerrt. Dann wird er ein wenig schwerer. Das Surren eines Reißverschlusses. Fühlt sich gut an, etwas Gewicht nach der finanziell beängstigenden Leere. Sie streckt ihr Handgelenk aus. Die Pfeifen-Person drückt eine Spritze in das Ventil des Schlauchsystems, das Bices Overall überzieht. Langsam ergießt sich die weißglühende Flüssigkeit in den Schlauch und wandelt das unerfreulich gelbe Glühen in geringfügig weniger unerfreuliches Grün. Das Abendessen ist gerettet. Sie dreht das Ventil zu, wippt auf und ab, prüft den Sitz des Rucksacks. Alle Reißverschlüsse richtig zu? Schnippst gegen einen ihrer Ohrringe–
„Ich würde Ihnen dringend davon abraten“, sagt die Pfeifen-Person. „Aber in den zwölf Jahren, in denen ich diesen Job mache, ist mir außer Ihnen noch nie jemand mit einem fehlerlosen Log begegnet.“
„Mir auch nicht“, sagt Bice. Die Blätter der Pflanze senken sich ein wenig. Bice notiert sich die Geste geistig unter Entspannung. Die Pfeifen-Person nickt.
„Viel Glück.“ Danke, wird sie haben. Sie bückt sich unter dem schrägen Türbalken hindurch zurück hinaus in den Sumpf. Gleißende Helligkeit umfängt sie. „Wiedersehen!“, ruft sie in die nun finstere Türöffnung. Keine Absichten, je wieder her zu kommen. Viel zu viele faszinierende Gegenden da draußen, die sie noch nicht gesehen hat. Sie legt den Kopf in den Nacken. Einen Augenblick brauchen ihre Pupillen, um sich wieder an die Helligkeit hier draußen zu gewöhnen. Hinter ihr ein lautes Pock, ja, ihr Schweberochen ist nicht sonderlich lernfähig. Eine fröhliche Welle läuft um seinen Rand, als sie ihm durch einen kurzen Ruck am Schlauch unter dem Türbalken hindurchhilft. Auf geht´s.
–
Schlamm spritzt unter ihren Schritten. Momentan reicht die Energie kaum für die Visumsgebühren der nächsten größeren Welt. Aber andere Möglichkeiten gibt es mittelfristig nicht, so dünn wie die Welten, die sie nicht sofort töten, hier am Arsch ihres Tannhäuser-Bereiches gestreut sind. Sie muss dringend ein Weltenreisebüro finden. Allerdings: Wer interkosmische Post bekommt, verschickt oft auch welche. Krise hin oder her: Aerocity ist eine größere Stadt. Hoffentlich beschert ihr einer der Empfänger dort einen Auftrag, der ausreichend bezahlt ist, aus diesem Labyrinth verschachtelter Kleinst-Welten wegzukommen. Sie hat eine grobe Vorstellung davon, wo ihr Ziel liegt, so wie man eine grobe Ahnung davon hat, dass die Milz sich vermutlich irgendwo im Rumpf befindet. Der Weltencode indiziert, dass sie sich nach Westen bewegen muss, um die Konvergenzzone zu finden. Die Pflanze unter dem einen Arm wippt mit ihren Schritten auf und ab, der Rochen treibt über ihnen. Die knochigen Rückenflossen einiger Raubfische drehen sich durch den Schlamm wie Zahnräder, doch keiner von ihnen wagt sich in ihre Nähe. Löcher tun sich neben ihr im Morast auf, doch sie meiden sorgfältig ihren Weg. Die Welt beugt sich um ihre Überzeugung, unaufhaltsam zu sein.
–
Der Morgen ist frustrierend, denn ihre Armbeuge ist leer, wie schon in den letzten Welten. Sie versucht, die moosfeuchten Hände am moosfeuchten Overall abzutrocknen. Es ist finster, die Pflanze stöhnt, als habe man sie wochenlang nicht gegossen, aber was soll‘s, in manchen Welten ist es immer dunkel und ihre Uhr zeigt unter der Flamme des Feuerzeugs auf Laufen.
–
Sie kommen gut voran. Weil sie eine passionierte Postbotin ist, selbstverständlich, und nicht etwa, weil sie inzwischen wirklich durch sehr viel Schlamm gewatet sind und Bice definitiv eine Nacht zu viel mit nassen Füßen auf einer feuchtkalten Moosinsel geschlafen hat, und Laufen warmhält. Definitiv nicht deswegen. Vor ihnen steigt eine blasse Sonne aus dem Dunst.
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„Das ist die falsche Richtung“, sagt die Pflanze.
„Wollen Sie mit oder nicht?“, fragt der krautbärtige Schlammsieber, der tief auf seine Stake gestützt im Kahn steht. Bice macht einen großen Schritt. Das Boot schwankt unter ihren Füßen. Sie faltet sich in die Mitte der Nussschale. Vorsicht, nicht die Nägel abbrechen am groben Holz. Wer weiß, wann man hier draußen das nächste Mal an hot-pink-glitzernden Nagellack kommt. Der Schlammsieber gibt seinen Kollegen in den ans Heck getäuten Booten ein Signal. Langsam setzt sich die Bootskette in Bewegung.
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„Also riskieren wir es?“, fragt der Schlammsieber seinen Kollegen im angrenzenden Boot. Das Gespräch ist nur mäßig interessant. Bice betrachtet den halb zugewachsenen Flussarm. Natürlich werden sie diesen neuen, mysteriösen Weg – diese Abkürzung – wählen, denn sie ist wohl der Grund, aus dem ihre Reiseunterlagen ihr diesen vermeintlichen Umweg nahegelegt haben.
„Das ist eine furchtbare Idee…“, murmelt die Pflanze. „Niemals die Wegschnüre verlassen. Das schreiben sie in jedem Reiseführer über diese Gegend…“
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Sie erreichen den kleinen Hafen einen ganzen Tag früher als geplant.
„Wussten Sie das?“, flüstert die Pflanze ihr zu. Bice macht eine unbestimmte Bewegung.
„Ich tendiere dazu, Glück zu haben.“
„Und das hinterfragen Sie nicht?“
„Schätzchen. Es gibt so unglaublich viele mögliche Schicksale. Rein statistisch gibt es bestimmt Leute, denen nur Gutes im Leben widerfährt. Wieso nicht mich?“ Die Pflanze wendet alle Augen ab. Ah, sie versteht die Implikationen, die solch geballte Glaubenskraft mit sich bringt. Ist sie Journalist? Diplomat? „Keine Sorge. Solange Sie als meine Sendung unterwegs sind, sind Sie sicher.“
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„Schützen Sie sich bitte“, sagt Bice.
„Schützen vor waaaaa…?“ – und springt.
„Dem Aufprall!“ Es klappert, der Topf wird aus ihren Armen geschleudert, schlittert über den Balkon, eine Spur aus Erde nach sich ziehend, kullert über die gegenüberliegende Kante. Sie krabbelt hinterher. Der Atemschlauch, den sie in kaum nervtötender Friemelarbeit vom Rucksack gelöst hat, baumelt gegen ihren Kopf.
„Ahhh! Ich glaube, ich habe mir einen kleinen Ast gebrochen…“, schallt es zu ihr hoch. Ja. So ist das, wenn man durch halb versunkene Sumpfweltstädte klettert. Aber hey, besser, als von einer wütenden – was zur Hölle ist das überhaupt? Ein Moosbüffel? – gefressen zu werden. Bice nickt dem heftig speichelnden Pflanzenfresser mitfühlend zu, der auf der anderen Seite der Brüstung der nun unerreichbaren Topfpflanze nachschmachtet. Hey, wo ist der Topf da gelandet? Ist das ein Wegweiser? Steht da Fährhafen?
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Die Fähre ist eine willkommene Abwechslung zu den holprigen Pfaden, den plötzlichen Säurenebelbänke und dem Fast-Steckenbleiben im Schlamm. Und während sie ihren kompletten Rucksack ausräumt, um ein Pflaster für seinen Ast zu finden – das Shirt, der Wechsel-BH, fünf Unterhosen, 5 Paar Socken, Mikrofaserhandtuch, Menstruationstasse, eine Rolle Klopapier, Zahnbürste, Zahnpasta, Deo, Kondome, ein Block Seife, Kuli, Notizblock, Feuerzeug, Verband, Panzertape, scheiße, nur noch zwei Nom-Riegel, Falt-Topf, Trinkschlauch, Schweizer Taschengöffel und endlich, natürlich ganz unten, Pflaster – Starrt die Pflanze ungläubig das dekadent gepolsterte Sitzmöbel und die schillernden Flügelchen an, die neben dem Strohhalm aus dem Sahneberg ragen, und für die Bice soeben ihr halbes Honorar ausgegeben hat. Die Schläuche auf dem Anzug glühen wieder gelb. Bitch, sie verdient es immer, erstklassig zu reisen, aber heute kann sie es sich leisten.
–
Je länger sie unterwegs sind, desto mehr benimmt die Welt sich, als sei sie betrunken. Die gesamte Natur entscheidet sich in brutaler Missachtung der in Bices Reiseunterlagen gelisteten Vegetationsperioden, zu blühen. Plötzlich ist alles voller Pollen, Samenhülsen schießen wie Platzpatronen durch die Luft. Bice zurrt die Schutzbrille fest, und spaziert pfeifend über die Landbrücke, die um diese Jahreszeit metertief unter Wasser stehen sollte.
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Der tote Baum stürzt freundlicherweise genau rechtzeitig um, sodass sie um das verfaulte Stück des Stegs herumbalancieren können.
„Ich fasse es nicht…“, murmelt die Pflanze, und ehrlich, das wird langsam repetitiv.
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Wie immer kündigt die Konvergenzzone sich an durch eigenartige, wilde Eindrücke, die vor ihrem inneren Auge auftauchen. Ein helmförmiger Druckschmerz hat sich um ihren Kopf gelegt, wie nach einer langen Flugreise. Entweder sind die allgegenwärtigen Sumpfgase die Ursache, oder sie sind jetzt sehr, sehr nah. Die Vorfreude kocht in ihrem Bauch hoch wie Milch in einem unbeaufsichtigten Topf. Weitere Eindrücke quellen in ihr Bewusstsein: Holzplanken, Zahnräder. Sie robbt auf dem Hintern vom Steg, mit den Beinen voran in den Schlamm, bis sie zu den Knöcheln, dann bis zu den Knien einsinkt, weil hier der Druck auf ihren Schädel heftiger wird. Ihr Gehirn feuert jetzt unkoordinierte Eindrücke wie ein Blitzlichtgewitter. Orgelpfeifen. Rotierende Hämmerchen. Sie streckt ihre Arme aus, schließt die Augen und drückt gegen die Realität. Sie gibt unter ihren Fingern ein wenig nach, wie eine dicke Nylon-Membran. Möglicherweise könnte sie die Realität an dieser Stelle zerreißen. Stattdessen fährt sie mit den Fingerspitzen darüber, tastend, aufmerksam. Sie muss noch ein wenig tiefer in den Sumpf hineinwaten, der Schlamm schmiegt sich schwer um die Beine ihres Overalls. Dann ertastet sie eine lose Stelle, hoch über ihrem Kopf. Sie muss sich strecken. Die lose Stelle fühlt sich an wie ein Loch in einer schlampigen Naht eines schlecht verarbeiteten Kleidungsstücks. Sie kann ihre Hand hindurchschieben. Mit der Handkante fährt sie abwärts, zieht die beiden Lagen der Realität auseinander. Sie öffnet die Augen. Ein wenig Nachbarwelt staubt ihr entgegen. Sie nimmt die zweite Hand zur Hilfe, ein Balanceakt, weil der Topf nach wie von in ihrem Ellenbogen klemmt. Das Zirpen und Quaken des Sumpfes hängen überdeutlich in ihren Ohren, doch aus dem Loch fällt warmes Licht. Ihre Hände, welche die Realität auseinanderziehen, verformen sich, wellen sich, werfen gemeinsam mit der Raumzeit Falten. Ob ihr Körper irgendwann Zeichen dieses Prozederes davontragen wird? Sie steckt vorsichtig ein Bein durch den Spalt. Als bis auf das übliche Dissoziationsgefühl nichts passiert, zieht sie es zurück und steckt stattdessen ihren Kopf hindurch. Zu ihrer Befriedigung erblickt sie im schädelzerdrückenden Kopfschmerz der konkurrierenden Realitäten einen Assoziationsfetzen Verbotsschild. Exzellent. Sieht nach Zivilisation aus nebenan. Sie zieht die Realität vorsichtig noch ein Stück weiter auseinander, sodass sie samt Topf, Rucksack und Rochen hindurchpasst. Bänke und dunstiges Licht. Sie braucht einige Kraft, um das Loch weit genug zu dehnen, dickflüssiger Schlamm beginnt sich durch den Spalt zu quetschen. Mit einem großen Schritt – verdammt ist es schwer, seine Beine aus dem Schlamm zu ziehen – steigt sie hindurch. Das Loch schnappt hinter ihr zusammen, der Kopfschmerz verschwindet als sei eine Nervenbahn durchtrennt worden, die Geräusche des Sumpfs verstummen. Schlamm klatscht auf die Dielen. Sie stehen in einer neuen Welt.
Wars das schon?
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